Wie eigne ich mir Musik an? - Teil 2, Gesang
Wie gehe ich an den Gesang eines Stückes heran?
Zunächst einmal versuche ich den Kern des Stücks für mich zu finden:
- Was bedeutet der Text für mich?
- Wo sind meine Schlüsselworte?
- Welche Melodielinien packen mich sofort?
- Ich versuche mich in den Song hinein zu fühlen.
- Wer singt da?
- Welche Gefühle leiten die Person des Stückes?
- Kann ich mir deren Position zu eigen machen?
Schwierig wird es, wenn mich ein Text zunächst gar nicht anspricht. Dann suche ich in meiner Erfahrung nach Erlebnissen, die ähnliche Gefühle hervorgerufen haben.
Oder ich versuche mich an Situationen zu erinnern, wo Freunde von mir ähnliche Gefühle hatten. Kann ich mich da hinein versetzen? Wenn das nichts hilft, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich lasse das Stück sein. Oder ich versuche, eine Situation für mich zu erfinden, wo der Text des Stückes stimmen könnte. Ich rede in dieser Phase laut vor mich hin, theatralisch. Teils mit meinen eigenen Worten, teils mit den Worten des Songs. So lange, bis ich für mich den Zugang gefunden habe. Jetzt kann ich mich auf den eigentlichen Text einlassen.
Dazu stelle ich mir die Frage: Wie ist die Charakteristik des Liedes?
Ich versuche den Text in verschiedenen Stimmungen zu sprechen, von Micky-Maus-Gequietsche über langweiligen eintönigen Vortragsstil bis hin zu rockigem Gemotze. Sehr empfehlenswert ist in dieser Phase ein Spiegel – Lachen ausdrücklich erlaubt! Am Ende entscheide ich, welche Charakteristik für mich am besten passt, so dass ich weiß, wo es schließlich hingehen soll.
Wichtig ist auch gute Artikulation – ich habe immer sehr viel Spaß, wäh-rend-ich-den-Text-ü-ber-trie-ben-deut-lich-aus-spre-che.
Jetzt kommt die Erforschung der Melodie.
Ich versuche in dieser Phase möglichst viel über die Melodie des Stückes heraus zu finden.
Zunächst singe ich die Melodie des Liedes ohne Text auf lalala oder eine andere Silbe, die mir grade in den Sinn kommt. Entweder nach Hörbeispiel oder nach Noten. Manche Passagen spiele ich mir auch auf dem Instrument vor.
Ich singe die Melodie in verschiedenen Tempi. Nachdem ich inzwischen schon weiß, welche Stimmung am Schluss entstehen soll, versuche ich das passende Tempo zu finden.
Ebenso suche ich nach den Stellen, die die Stimmung besonders gut ausdrücken.
Ich versuche, die Melodie verschieden zu betonen. Oft ergeben sich allein durch die Lautstärke verschiedene „Aussagen“.
Durch das häufige Durcharbeiten lerne ich einerseits die Melodie gut, andererseits verfüge ich nun über ein breites Wissen bezüglich der Melodie.
Bei dieser ganzen Erarbeitung achte ich darauf, dass die Atmung stimmt und dass ich für mich schwierige Passagen technisch leicht singbar hinbekomme. Auch bei schreienden Teilen sollte die Stimme möglichst entspannt bleiben. (zur guten Stimmbenutzung ist unschlagbar Craig Shimizu)
Wenn ich die Melodie sicher singen kann, setze ich den Text auf die Melodie. Das erfolgt normalerweise langsamer, als ich es am Ende anstrebe. Nun kann ich die Melodie dem Text anpassen.
Ich versuche anschließend, alles heraus zu holen, was die Aussage des Textes besonders unterstützt. Habe ich die Passagen im Ausdruck festgelegt, singe ich a capella weiter und steigere das Tempo.
Wichtig – wie immer: Entspannte Körperhaltung, gute Atmung und gute Artikulation…
Und dann wäre da noch das leidige Textlernen… Ein Stück weit sollte ich den Text inzwischen intus haben.
Um mir den Ablauf zu merken, mache ich mir einen reduzierten Spickzettel. Bei mir ist das der schematische Ablauf mit den Anfangswörtern. Den Rest des noch fehlenden Textes versuche ich mir mit Bildern zu merken. Jedes Bild bekommt seine Textzeilen, die ich vor mich hinmurmle oder leise singe. (Legendär sind die Flipcharts von Dream Theater.)
Jetzt nuuuur noch 1000 Mal vor dem Einschlafen wiederholen…
Sooo… und jetzt fügen wir alles zusammen: Die Gitarre und den Gesang.
Wenn es nur in der Realität auch so einfach wäre wie in einem Rezept – alles zusammen in eine Schüssel, umrühren – fertig.
Aber nein… Ein wenig Arbeit ist es schon. Langsames Tempo hilft auch hier erst mal. Jaa, ich weiß schon, wir konnten das alles schon viel schneller, und die Ungeduld zerrt an den Nerven.
Aber es hilft nichts. Wenn der Körper weiterhin entspannt bleiben soll und auch live über längere Zeit durchhalten, und überdies schöne Töne produzieren soll, braucht es dieses letzte Schnapperl an Geduld noch. Aber wenn schließlich das Tempo hoch geht und alles schön klingt und sich gut anfühlt, ist die Freude umso größer.
Endlich ist der Song da!
Richtig gut wird es, wenn jetzt noch andere Instrumente und Stimmen dazu kommen. Das gibt dann den ultimativen Kick.
Genuss! Dafür gehe ich auf die Bühne! Und ab in die Ohren der Leute damit!
(Und nuuun die schlechte Nachricht für alle Gewohnheitstiere: Nachdem alle Arbeit getan ist, gibt es keine Garantie, dass es dabei bleibt… Ich verändere mich und auch der Song/das Stück ändern sich im Laufe der Zeit mit mir. Dann geht der Schmarrn also wieder von vorne los. Auch die wechselnde Zusammensetzung der Musiker hat natürlich Einfluss auf den Song… Also besteht keinerlei Aussicht darauf, dass die Arbeit mal fertig wäre… Aber ganz ehrlich – das macht die Musik doch erst spannend und lebendig, oder?)
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